Oberholzer Alex, Zürich (CH)
Themen: Behinderung, Resilienz, aussergewöhnliche Kindheit, Aussenseiter, Inklusion
Geboren als Laune der Natur, anschliessend Kinderlähmung. Studium der Mathematik und Germanistik. Gearbeitet als Filmkritiker bei Radio24, TeleZüri und StarTV sowie in der Kommunikation des Bundes. Vater von 4 erwachsenen Kindern.
Besonderes
Die Lesung ist sehr persönlich, ich erscheine im Rollstuhl und beantworte alle Fragen.
Werke
- Im Paradies der weissen Häubchen - Meine Kindheit im Spital
Leseprobe aus «Im Paradies der weissen Häubchen - Meine Kindheit im Spital»
Ich habe meine ersten 12 Jahre, also meine ganze Kindheit, in einem Heim verbracht. Nicht Vater und Mutter waren meine Bezugspersonen, sondern Pflegepersonal. Betreuerinnen, Schwestern, Ergo- und Physiotherapeutinnen.
Was heute unvorstellbar scheint, war damals üblich. Das Kinderspital war voll mit kleinen Kinderlähmungs-Patienten. Die meisten – auch ich – entfremdeten sich von ihren Eltern. Denen wurde gesagt, es wäre besser für das Kind, wenn sie es nicht besuchen kämen. Wegen den Bazillen, den Viren und dem immer wieder neu entfachten Heimweh. Meine Eltern glaubten der Göttin in Weiss – und besuchten mich nicht. Das Kispi wurde mein Zuhause. Es war ein Schlösschen mit zwei Türmen, hoch thronend auf dem Mühleberg über Affoltern am Albis. Darin wohnten um die sechzig Kinder, verteilt auf drei Stockwerke. Die Schwestern waren unsere wichtigsten Bezugspersonen. Sie waren unsere Mütter. Wir hatten das grosse Privileg, nicht nur eine uns zugeteilte Mutter zu haben, sondern eine ganze Auswahl. Da gab es alles, von der Hexe bis zur Prinzessin, von der Göttin bis zur Domina. Wir mussten nur noch wählen. Natürlich bestimmte ein Einsatzplan, wer unsere Schwester war. Aber wir waren ja alle mobil, krochen herum oder sassen in unseren Rollstühlen oder konnten auch schon ein bisschen herum humpeln, jedenfalls wussten wir immer genau, wo unsere Lieblingsschwestern waren und gingen dort, immer wenn die Zeit es zuliess, ein bisschen auf Pirsch. Der Vorteil von so vielen Schwestern ist natürlich, man eignet sich unweigerlich und erzwungenermassen eine grosse Menschenkenntnis an. Man wusste bei den Schwestern auf den ersten Blick, woran man bei und mit ihnen war. Es ging schliesslich ums emotionale Überleben.