Vorbermerkung
Die Sekundarschule Neftenbach war von 2019 bis 2024 Teil von «Kulturagent.innen für kreative Schulen», einem Projekt für kulturelle Bildung und Schulentwicklung. Ziel dieses Pilotprojekts war und ist es, an den Schulen stabile und verlässliche Strukturen für kulturelle Bildung zu schaffen. Kulturagentin Laura Zachmann unterstützte die Schule bei der Entwicklung von passgenauen schulischen Gefässen sowie von künstlerischen Projekten in Kooperation mit Kulturinstitutionen und Künstler/innen.
Im Frühjahr 2024 blickte sie für die Projektpublikation «Schule machen. Einblicke - Beispiele - Erkenntnisse» auf die vergangenen zwei Jahre zurück und legte den Fokus auf die Kulturwoche, die die Sekundarschule Neftenbach im Sommer 2024 das dritte Jahr in Folge durchführte. Neun Kulturschaffende aus den Sparten Film, Musik und Bildende Kunst waren während dieser Woche an der Schule zu Gast. Was gilt es aus den gemachten Erfahrungen für die Fortsetzung des Projektes mitzunehmen? Laura Zachmann beleuchtet die fünf wichtigsten Schaltstellen für die Realisierung von Kulturprojekten mit externen Fachpersonen.
1. Programmation
Felix spricht viel und schnell und einiges weiss er nur auf Englisch auszudrücken. Auf seinem Bildschirm sind Wörter und Zeichen vor dunklem Hintergrund zu sehen. Aus den Lautsprechern ertönt elektronischer Sound. Felix gibt Befehle ein, beginnt eine neue Zeile, kopiert und fügt Bestehendes wieder ein. Er programmiert, er komponiert: Der sich ständig wandelnde Sound im Klassenzimmer erzählt davon.
Die Kulturwoche der Schule Neftenbach ist aus einer bereits im Curriculum verankerten Lesewoche entstanden. Mit dem Ziel, kulturelle Bildung möglichst niederschwellig und in Form von konkreten Projekten zu fördern, wurde die Lesewoche inhaltlich überarbeitet. Gewünscht war eine grosse Breite an kulturellen Praxen und man einigte sich auf die drei Schwerpunkte Musik, Bildende Kunst und Film. Hinter der Dreiteilung steht ebenfalls die Idee, jeden Schwerpunkt im Laufe der dreijährigen Sekundarschulzeit einmal zu durchlaufen. Die konkrete Ausgestaltung der Kulturwoche bedeutet kuratorische Arbeit. Für jeden der drei Bereiche Musik, Bildende Kunst und Film gilt es, passende Personen zu finden und ein möglichst breites Spektrum innerhalb eines Bereiches abzudecken.
So beinhaltet der Bereich Musik beispielsweise einen Songwriting-Workshop, ein Angebot zu Poetry-Slam und einen Workshop, in dem Sound mittels Livecoding entsteht. Eine passende Wahl von Themen und Kulturschaffenden zu treffen, stellt jedes Jahr eine besondere Herausforderung dar. Zum einen soll der Inhalt für die Schülerinnen und Schüler neu und herausfordernd sein, zum andern sollen die Schülerinnen und Schüler leichten Zugang finden und Freude an der Arbeit haben. Es hat sich gezeigt, dass die Arbeit mit den Händen und mit Material, wie etwa im Skulpturen-Workshop mit der Künstlerin Karin Kurzmeyer, von den Schülerinnen und Schüler sehr geschätzt wird. Das Lernen und Denken mit den Händen stellt eine willkommene Abwechslung zum ansonsten denk- und sprachlastigen Schulalltag dar. Die ernsthafte Auseinandersetzung und die Realisierung eines Produktes, das als «wie in echt» beurteilt wird, stellen für die Schülerinnen und Schüler eine grosse Entdeckung dar, welcher sie mit viel Einsatz nachgehen. Sie erleben sich selbstwirksam und sind darin gefordert, ihre Ideen zu veranschaulichen und auszugestalten.
Das ergebnisoffene, prozesshafte Arbeiten wird von den Schülerinnen und Schülern weitaus weniger geschätzt. Es steht auch in einem grossen Kontrast zum üblichen aufgabengeleiteten und zielgerichteten Vorgehen des schulischen Unterrichts. Je nach Wahl der Kulturschaffenden erhält das Eine oder das Andere mehr Gewicht. Wieviel Neues und Unbekanntes wollen wir den Schülerinnen und Schüler zumuten? Wie bereiten wir sie auf das Projekt vor, respektive welche Besonderheiten gilt es allenfalls nochmals aufzugreifen und zusätzlich zu vermitteln? Und in welchem Verhältnis steht der Lernprozess zum Endergebnis?
2. Rahmung
Schwefelgeruch liegt in der Luft, bunte Rauchwolken verhüllen die Sicht auf den Haupteingang. Rund 250 Menschen stehen dicht beisammen auf dem Pausenplatz und betrachten das Feuerwerk, ehe sie gemeinsam das Schulhaus betreten. Der Windfang beim Haupteingang unterteilt die Gruppe, löst sie auf. Alle gehen ihres Weges und es kehrt Ruhe im Schulhaus ein.
Es ist inzwischen zum Ritual geworden, dass der Wochenauftakt der Kulturwoche von der Kulturagentin mit einem Feuerwerk eingeläutet wird. Erst nach dem gemeinsamen Start nehmen die Klassen ihre Arbeit in ihren Zimmern auf. Im Verlauf der Woche kommt es immer wieder zu spontanen Begegnungen der Klassen untereinander. Sei es beim Arbeiten auf dem Flur, beim Assistieren während des Drehs oder einfach aufgrund von Freundschaften. Ansonsten verläuft die Arbeit an den Projekten weitestgehend unabhängig voneinander. Ein weiterer wichtiger Moment stellt das vom Lehrerpersonenteam organisierte Mittagessen für die Kulturschaffenden dar. Diese Geste der Gastfreundschaft und der informelle Austausch beim Mittagessen lassen die Lehrpersonen und die Gäste für kurze Zeit noch stärker zu einem Team zusammenwachsen, um die Woche gemeinsam zu tragen. Wie der Wochenauftakt gilt es auch den Wochenabschluss zu planen und gestalten.
Die Kulturwoche endet jeweils mit einem gemeinsamen Nachmittag, der eine Präsentation aller Projekte und eine Ausstellung im Schulhaus beinhaltet. Es werden die Arbeiten von neun Klassen präsentiert und ausgestellt: Songs, Filme, einen Slam-Wettbewerb, Bilder, Animationen und Objekte. Die Kombination aus Live-Momenten und Ausstellung hat eine genaue Planung und Choreografie zur Folge. Für die Live-Darbietungen zieht die ganze Schule mit ihren 200 Schülerinnen und Schülern und 35 Lehrpersonen in den Singsaal. Dieser stösst mit einer solchen Publikumsgrösse an seine Grenzen. Es gibt zu wenig Sitzplätze, es ist heiss und akustisch schwierig, alle zu erreichen. Und dennoch bildet diese geballte Ladung an Menschen und Kultur jedes Jahr den Höhepunkt der Woche und gibt den Schülerinnen und Schülern den Raum, der ihnen für ihre Leistung zusteht. Sie haben sich eingelassen auf Neues, da und dort mal etwas gewagt und zeigen in ihren Arbeiten ganz persönliche Facetten von sich. Immer mal wieder auch solche, die den Lehrpersonen neu sind. Der mutige Sprung ins kalte Wasser, auch der Lehrpersonen, soll gebührend gefeiert werden.
3. Raum
Es raschelt: Die Schülerinnen und Schüler legen Plastikfolie auf dem Boden aus. Sie schieben Tische umher, schauen sich um, diskutieren. Auf den Stufen, entlang der Wand und vor der Bühne, richten sie ihre Arbeitsplätze ein. Grosse Papierbögen, Klebeband, Pinsel und eine Auswahl an Farben liegen bereit. Im Singsaal treten in dieser Woche Malerinnen und Maler auf.
Projekte der kulturellen Bildung arbeiten oftmals mit Material und Technik, mit Raum und grosszügigen Präsentationsflächen. Sie benötigen ein anderes räumliches Setting als das eines herkömmlichen Klassenzimmers. Diesen räumlichen Anforderungen gerecht zu werden, ohne dabei die Projektidee zurechtzustutzen, bedarf kreativer Lösungen und genügend Vorlaufzeit. Das Projekt mit der Zürcher Malerin El Frauenfelder erforderte einen Raum, in dem grossformatig gemalt werden konnte. Die Klassenzimmer und die Fachzimmer des TTG-Unterrichts waren dafür zu klein. So kam es, dass die Klasse für eine Woche in den Singsaal, den grössten Raum der Schule, umzog. Der Singsaal bot der Klasse in zweierlei Hinsicht eine andere räumliche Situation als das Klassenzimmer. Denn diese neue Situation galt es erst gemeinsam zu gestalten. Die Tische wurden relativ zufällig im Saal verteilt und die Anordnung der Tische erfolgte ohne bestimmte Ausrichtung: Es gab kein Pult für die Lehrperson und keine Wandtafel. Die Künstlerin bewegte sich während des Unterrichts zwischen den lose im Raum verteilten Tischen.
Im Verlaufe der Woche sammelte sich eine Vielzahl an Malereien und Materialien auf dem Boden des Singsaals an. Diese wurden von den Schülerinnen und Schülern neugierig betrachtet und dienten zur Inspiration für weitere Bildideen oder neue Techniken. Die Stimmung im Raum war während der Arbeit konzentriert und gemeinschaftlich zugleich. So ermöglichte der Umzug in einen anderen Raum nebst der neuen Lernerfahrung auch eine neue Unterrichtserfahrung. Was von dieser Erfahrung soll zurück in den Schulalltag fliessen? In welchem Masse soll die Schulhausarchitektur Einfluss auf Projektideen nehmen? Und welchen Einfluss haben räumliche Gegebenheiten generell auf den Unterricht? Antworten auf diese Fragen zu finden, stellt eine zentrale Auseinandersetzung bei der Realisierung von Kulturprojekten an Schulen dar.
4. Rollen
Sie trägt eine silberne Jacke und Sneakers. Das Haar hat sie locker zusammengebunden. Alle Wege, die sie geht, geht sie das erste Mal. Ihr Blick wandert durch den Raum: zu den Wänden, zu den Schülerinnen und Schülern und wieder zurück. In ihrer Körperhaltung wird deutlich, dass es für sie noch keinen Ort im Raum gibt. Sie geht suchend umher, vor und zurück, den Seiten entlang und zurück zur Raummitte. Dort beginnt sie zu sprechen.
Die Kulturschaffenden nehmen im Rahmen der Kulturwoche eine sonderbare und anspruchsvolle Rolle ein. Sie bewegen sich irgendwo zwischen ihnen zugeschriebenen Kunstschaffenden-Klischees und dem Anspruch an gekonnte Klassenführung und werden dabei nicht selten auch missverstanden. Die Herausforderung ergibt sich aufgrund von unterschiedlichen Gegebenheiten. Sie treffen während dieser Woche auf eine ihnen bis dahin unbekannte Klasse und stehen vor der Aufgabe, innert kürzester Zeit eine Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern aufzubauen, um sie ideal begleiten zu können. Die Begleitung von gestalterisch-künstlerischen Arbeiten ist persönlich und bringt stets auch Persönliches zum Ausdruck. Eine vertrauensvolle Beziehung stellt für eine kompetente Begleitung eine Grundlage dar. Zudem erwarten die Klassenlehrpersonen häufig, dass der Unterricht auch während der Projektwoche ruhig und ordentlich abläuft, was das Kennen und Durchsetzen von etablierten Regeln voraussetzt und im Rahmen von praktischem Arbeiten oftmals schwierig zu erreichen ist. Daher stellt die Ad-hoc-Zusammenarbeit zwischen Lehrperson und kulturschaffender Person oftmals eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit dar.
Darum ist es essenziell, die Verantwortlichkeiten im Vorfeld klar aufzuteilen, so dass die Lehrperson ihre angestammte Rolle ein Stück weit verlassen kann und dem Gast die Bühne überlässt. Wenn das erfolgreich gelingt, tut sich plötzlich ein Spielraum auf, in dem sich ein neues Miteinander etablieren kann. Wechselt die Lehrperson in die Rolle der teilnehmenden Beobachtenden, kann sie zweierlei gewinnen: Der Blick von aussen inspiriert und regt an, eine Veränderung zu wagen oder das Alltägliche einfach mal in einem anderen Licht zu sehen. Aus der beobachtenden Perspektive eröffnet sich den Lehrpersonen oftmals auch ein neuer Blick auf ihre Klasse und die einzelnen Schülerinnen und Schüler. Nicht selten entdecken sie dabei neue, ihnen bis anhin noch unbekannte Facetten.
5. Regeln
Auf dem Flur liegen zwanzig kleine Tonobjekte, geformt von den Händen der Jugendlichen. Daneben liegt ein Zettel: Achtung. Sie liegen da, still, anwesend und bisher unbeachtet. Auf dem Weg zum Teamzimmer streift der Blick des Hauswarts zufällig die Objekte. Er bleibt stehen, überlegt kurz und betritt unverzüglich das Klassenzimmer nebenan.
Die Kulturwoche stellt eine Sonderwoche innerhalb des Schuljahres dar. Man könnte behaupten, dass sich die Schule während einer Woche in einem positiven Ausnahmezustand befindet: Die Pausenglocke erklingt nicht mehr. Die Stundentafel fällt aus. Rund 200 Schülerinnen und Schüler proben, formen, zeichnen, singen, filmen, rappen, malen, spielen, schreiben, fotografieren, bauen, sprechen, performen und zeigen. Lehrpersonen stehen am Grill oder sitzen ganz hinten im Schulzimmer und hören ihren Schülerinnen und Schülern aufmerksam zu. Künstschaffende gehen im Schulhaus ein und aus und das Chemiezimmer wird zum Drehort für die filmische Inszenierung eines Giftanschlages. Der gut eingespielte und selbstverständliche Schulalltag setzt während dieser Woche aus. Und plötzlich geraten die ansonsten so selbstverständlichen Regeln ins Wanken: Das Handy taucht während des Unterrichts auf, die Pausen werden selbstständig abgehalten, auf den Fluren liegt Arbeitsmaterial, die Schülerinnen und Schüler verlassen das Schulgelände und es gibt eine «Ersatzbank» für Schülerinnen und Schüler, die den Unterricht stören könnten.
Wie einigt man sich auf gemeinsame Regeln in einer Situation, die von Ausnahmen bestimmt ist? Wie stark appelliert man an einen selbstverantwortlichen Umgang der Schülerinnen und Schüler und schenkt ihnen das Vertrauen, diese Woche ohne zusätzliche Regeln auszukommen? Oder erwartet man, dass Schülerinnen und Schüler den «Graubereich» Sonderwoche für eigene Zwecke ausnutzen und stellt sanktionierende Massnahmen bereit? Die Verhandlung dieser Fragen gilt es vorgängig zu klären. Womöglich stellt es auch einen produktiven Moment dar, um grundsätzlich über das Verhältnis von Regeln versus Selbstverantwortung nachzudenken.